Geschrieben von Dr. Carsten Lüter, Museum für Naturkunde, Berlin.
Die Tiefsee ist voll mit seltsam anmutenden Wesen, die sich im Laufe der Evolution an die unwirtlichen Bedingungen dieses Lebensraums angepasst haben: ewige Dunkelheit, tiefe Temperaturen, hoher Druck und sporadische Verfügbarkeit von Nahrung. Wir Biologen an Bord der SONNE sind sehr daran interessiert, diese Diversität der Tiefseelebewesen zu beschreiben und Fragen zur Verbreitung von Arten in der Tiefe und möglichen Ausbreitungsbarrieren zu beantworten. Aber wir haben ein Problem, das sich am Besten mit einer Aussage des Protagonisten im US-Kinofilm Forrest Gump beschreiben lässt: „Meine Mutter sagte immer, das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen…man weiß nie was man bekommt!“ Und genau das passiert, wenn man ein Sammelgerät 4000m tief zum Meeresgrund schickt. Man weiß überhaupt nicht was am Ende an Bord auftauchen wird, nachdem die Proben aus ihrem dunklen und kalten Zuhause geholt wurden. Und manchmal stehst Du selbst als gut ausgebildeter Meeresbiologe völlig ratlos davor und hast Schwierigkeiten, die Tiere überhaupt nur einer Tiergruppe zuzuordnen. Genau das geschah uns vor wenigen Tagen als eine Dredge mit einem einzigen Stein, ein paar Nadeln eines Glasschwamms und einem rosa-farbigen, mit warzigen Knubbeln bedeckten Tier nach oben kam.

Das merkwürdige Wesen beschäftigte uns den ganzen Tag lang und die Spekulationen bezüglich seiner Zugehörigkeit gingen von Nesseltier über Schnecke bis hin zu Seegurke und wieder zurück. Aber alles passte irgendwie nicht richtig. Mit 10 cm Durchmesser war das Tiere relativ groß, wir konnten aber nicht einmal sagen wo vorne und hinten ist. Wo war der Kopf? Hat es überhaupt einen? Ist es vielleicht nur ein Teilstück eines Tieres und der Rest ist noch irgendwo da unten? Niemand hatte eine Idee. Immerhin bezüglich der Tiergruppe hatten wir uns auf Seegurke eingeschossen…wir konnten kaum weiter daneben liegen! Ich schickte eine Nachricht mit Bildern an meine ehemalige Doktorandin in Indonesien, eine Spezialistin für die Taxonomie von Seegurken. Ihr Kommentar: „Sowas habe ich noch nie gesehen“, offenbar hatten wir uns verrannt. Erst am nächsten Morgen fragte einer von uns „was, wenn es doch ein Nesseltier ist?“ Die richtigen Suchworte ins Netz geschickt und siehe da: Es ist ein Nesseltier! Zwei chinesische Kollegen haben 2016 zwei neue Arten dieser als Phelliactis und Paraphelliactis bekannten Gattungen von Tiefsee-Seeanemonen beschrieben (Li & Xu 2016) und deren Publikation enthält Bilder, die unserem Tier verblüffend ähnlich sehen. Beide Gattungen können nur anhand feinster anatomischer Merkmale unterschieden werden und wurden in der Vergangenheit auch schon unter einem Namen (Phelliactis)synonymisiert. Sie sind weltweit verbreitet und kommt wohl häufiger vor, werden aber selten in Proben aus der Tiefsee gefunden. Die Tiere leben auf den weiten Sedimentflächen des Ozeanbodens, benötigen aber zum verankern ihres scheibenartigen Fußes einen harten Untergrund, etwa einen Stein oder die Nadeln eines Glasschwamms – so wie diejenigen, die wir zusammen mit der Seeanemone in unserer Dredge gefunden hatten. Die Tentakel der Tiere sind relativ kurz, aber die Tentakelbasis bildet eine halb zusammengeklappte große Scheibe, die die Anemone wie eine Venus-Fliegenfalle aussehen lässt.
Der Fund unseres Tieres südlich von Madagaskar ist interessant, weil die einzigen bisher aus dem indischen Ozean beschriebenen Exemplare der Gattung Phelliactis aus dem tiefen Wasser vor Somalia bzw. vor Sumatra stammen. Diese wurden während der Deutschen Tiefsee-Expedition mit der „Valdivia“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts gesammelt. Vielleicht haben wir hier sogar eine neue Art entdeckt, aber das werden uns erst die genaueren Analysen des Tieres zeigen können, wenn wir wieder zuhause sind. Praktischerweise findet sich das Original- oder Typusmaterial der beiden beschriebenen Arten aus dem indischen Ozean in der Sammlung des Berliner Museums für Naturkunde. Immer wenn wir eine Dredge oder ein anderes Sammelgerät in die Tiefe schicken, können solche ungewöhnlichen und faszinierenden Organismen an Bord kommen. Daher sind wir Biologen jedes Mal ziemlich aufgeregt. Es ist wie bei einer Safari, wenn man den Anblick eines spektakulären Tieres hinter jeder nächsten Ecke vermutet. Und genau das macht den großen Spaß einer solchen Tiefsee-Expedition aus.
Li Y, Xu K (2016) Paraphelliactis tangi n. sp. and Phelliactis yapensis n. sp., two new deep-sea species of Hormathiidae (Cnidaria: Anthozoa: Actiniaria) from a seamount in the tropical Western Pacific. Zootaxa 4072 (3): 358-372.